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Die Entdeckung des Unsichtbaren

Das Frankfurter Dialogmuseum zeigt seinen Besuchern den Alltag von Blinden. Es ist aber auch eine Chance für "sehende" Menschen, mit Blinden, die hier eine Jobperspektive gefunden haben, in Dialog zu treten. Auch international ist das Konzept "Dialog im Dunkeln" sehr erfolgreich.

Rumpelnd fährt die grüne Straßenbahnlinie 11 in der morgendlichen Rushhour über die Hanauer Landstraße in Frankfurt am Main. Im Wagen, direkt am Einstieg, steht Sandra Schröter. Sie ist 30 Jahre alt, hat kurze braune Haare und trägt ihre Tasche quer über den Oberkörper gehängt. In ihrer Hand hält sie einen weißen Langstock mit rotem Griff. Das Werbeschild einer Metzgerei, die Gesichter der Fahrgäste, die pöbelnden Jugendlichen in der Bahn – all das sieht sie nicht.

Blinde begleiten Sehende durch Alltagssituationen

Sandra ist von Geburt an blind. Allein Hell und Dunkel kann sie unterscheiden. Aber sie weiß auf den Punkt, wo die Bahn hält, während die Sehenden sich an einer falschen Tür drängeln. Auch die frechen Kids hat sie »im Auge« und hofft, dass die später nicht an ihrem Arbeitsplatz auftauchen. Der ist im Frankfurter Dialogmuseum, das es seit rund einem halben Jahr gibt. Dort führt sie als »Guide« Sehende durch einen ganz besonderen Parcours. Tagein, tagaus fährt sie dafür aus Frankfurts Norden in den Osten. Ihr alleiniger Begleiter ist der Blindenstock: »Selbstständigkeit ist ein ganz hoher Wert für mich.«

Neue Fahnen wehen vor der polierten Fassade des Museums, drinnen drängen sich Schülergruppen im Foyer. Hinter einer Treppe liegt ein dunkler Durchgang: »Dialog im Dunkeln – eine Ausstellung zur Entdeckung des Unsichtbaren«. Das Konzept des Museums ist simpel: Blinde und sehbehinderte Menschen führen Sehende durch Alltagssituationen – in tiefer Dunkelheit. »Machst Du die Tour mit neun Schülern?«, fragt Sandras Teamchef Matthias Schäfer. Er ist ebenfalls blind. »Wenn das nicht die aus der Straßenbahn von eben sind ...«, antwortet Sandra ein wenig sarkatisch. Dann verschwindet sie hinter einer Tür, die versteckt am Ausgang der Ausstellung liegt.

Es ist dunkel hier, stockdunkel. Das Auge sucht nervös nach einem Halt, die anderen Sinne übernehmen das Kommando. Stimmen, Kaffeegeruch, ein kleiner Tisch: Bar-Atmosphäre. Sandra tauscht hier noch ein paar Worte mit Kollegen aus, dann beginnt ihr Job. Heute hat die junge Frau eine besonders schwierige Gruppe zu führen. Sechs Jugendliche, die kaum Deutsch verstehen, stürmen ihr auf dem engen dunklen Gang entgegen. Eben erst haben sie einen Langstock in die Hand gedrückt bekommen. Sandra weiß genau, was damit alles passieren kann und sagt: »Die Stöcke bleiben unten auf dem Boden.«

Dann startet die Odyssee durch ein Frankfurt, wie es die meisten nie kennen lernen werden. Die Stöcke klappern und die Jugendlichen giggeln. Sandra führt sie durch einen Park. Wind bläst, Vögel zwitschern, der Boden unter den Schuhen ist weich. Dann lotst sie die Jugendlichen über eine wackelige Brücke. Halt gibt vor allem Sandras Stimme. »Auf meine Stimme zukommen, weiter auf meine Stimme zukommen«, ruft sie. Es folgt ein leerer Raum. Jeder drückt sich reflexartig an die Wand.

Einblicke in eine Welt, in der Sehen keine Rolle spielt

Hoch über dem Dialogmuseum sitzt Klara Kletzka in ihrem Büro. »Insgesamt 18 000 Menschen haben die Ausstellung in Frankfurt seit der Eröffnung besucht«, sagt sie. Und: »Ich will beweisen, dass man das über Einnahmen finanzieren kann.« Kletzka ist Überzeugungstäterin. Vor Jahren lernte die Kulturmanagerin den »Erfinder« des Konzepts von »Dialog im Dunkeln«, Andreas Heinecke, in Frankfurt kennen. Seitdem verwirklichten die beiden zahlreiche gemeinsame Ausstellungen. »Für mich hat die Begegnung Weichen gestellt«, sagt Kletzka, und dass sie mit ganz anderen Sinneswahrnehmungen durch die Welt gehe.

»Es geht darum, Einblicke in eine nichtvisuelle Welt zu bekommen«, erklärt sie das Konzept von »Dialog im Dunkeln«. Es gehe hier aber nicht um Effekthascherei. Wichtig ist die Begegnung mit blinden Menschen »auf Augenhöhe« und vor allem der Dialog. Mittlerweile kommen Schulklassen aus den Nachbarstädten – und auch Firmen entdecken die Möglichkeiten, die Seminare im Dunkeln, Management-Training oder Betriebsfeiern im Restaurant »Taste of Darkness« (etwa: Geschmack der Dunkelheit) bieten. »Unternehmen entdecken das Dialogmuseum als Trainingsmöglichkeit für Kommunikation«, sagt die Geschäftsführerin.

»Dialog im Dunkeln« basiert auf einem Franchising-Konzept; man »mietet« die Idee. Weltweit gibt es inzwischen zahlreiche Museen dieser Art, und sogar Kunstausstellungen finden »im Dunkeln« statt. Zur Winterolympiade in Turin konnten Besucher in einer ehemaligen Fabrikhalle sogar eine Bobfahrt im Dunkeln erleben. In Brasilien wiederum gibt es einen Franchise-Nehmer, der »Dialog im Dunkeln« in Einkaufszentren plant, um dort etwas Sinnvolles gegen Vorurteile gegenüber blinden und sehbehinderten Menschen zu tun. In Tel Aviv wiederum entstand eine Ausstellung in Zusammenarbeit mit einem Kindermuseum.

Erwachsene drucksen beim Thema Blindheit herum, seien un- sicher, bedauert Sandra. Auch bei der Jobvergabe hätten Erwachsene Kontaktscheu vor blinden Menschen. Zweieinhalb Jahre hat sie nach einer Stelle gesucht, bevor sie im Museum als »Guide« angestellt wurde. Sie leitet hier auch Workshops und arbeitet im »Taste of Darkness«.

»Es wird einem Blinden einfach nichts zugetraut«, bedauert sie. Dabei hat Sandra einen Universitätsabschluss als Sozialpädagogin und Berufserfahrung. Trotzdem wurden ihr bislang nur befristete Stellen angeboten. »Dialog im Dunkeln« ist nun eine Chance für sie. Dafür musste sie ihre Wohnung in Karst bei Neuss aufgeben. Um das rund 250 Kilometer entfernte Frankfurt überhaupt kennen zu lernen, fuhr sie mit Freunden erst einmal die Wege ab.

Das Dialogmuseum

Dialogmuseum Hanauer Landstraße 139-145
Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 9 bis 17 Uhr, Samstag, Sonntag und an Feiertagen 11 bis 19 Uhr


Kontakt: www.dialogmuseum.de