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Metall-Bestien sind auch nur Menschen

Berliner High-Tech Monster mischen die Kulturhauptstadt Lille auf.

Giftgrüne Augen stieren durch die Gitterstäbe. Ihr Besitzer ist ein grimmiger Metallkäfer. Menschengroß steht er auf dem Place du Théatre von Lille. Sein Zuhause: Ein Käfig. Ein Mädchen mit kirschrotem Pulli lugt durch die Eisenmaschen und plötzlich erwacht das silbriggraue Wesen zum Leben. Seine dürren Klauen zucken und lassen das Glöckchen daran hell erklingen. „Das ist lustig“, amüsiert sich eine französische Passantin. Er bimmelt, klopft und schnattert. Mit den übrigen Beinchen hämmert das Insekt auf grinsende Totenköpfe, um dann seinem Publikum frech die Zunge entgegenzustrecken.

Ein Vogel mit blutroten High Heels

Der agile Käfer gehört zu einer überdimensionalen Spieluhr, die rein gar nichts mit Putten oder Ballerinas klassischer Spieluhren zu tun haben will. Die Uhr kommt aus Deutschland und gehört zum Maschinentheater der Berliner Künstlergruppe ‚Dead Chickens’. Sie ist Ihr Beitrag zum Kulturhauptstadt-Programm Lille 2004. In der Mitte der Uhr: Ein Baum, dessen Krone aus Polyester und Fieberglas wie milchiges Froschlaich im Sonnenlicht leuchtet. Darunter: Eine ganze Schar von Fabelwesen, die stumm auf ihren Auftritt lauert. Als der Käfer verstummt, öffnet ein vielfüßiger, mit blutroten High Heels bestöckelter Vogel seine Augen. Kinder wie Erwachsene springen um die Spieluhr herum, folgen den Bewegungen oder stehen wie gebannt vor einem Spuk. Schließlich bläst ein dritter metallener Geselle mit großen kugelnden Augen seine Klostopfen-Tröte. Tööööt!, schallt es. „Die Spieluhr - das ist was für die Kleinen“, sagt eine junge Mutter mit Kinderwagen. Ihre Sprösslinge lugen indes dem Treiben der Uhr hinterher. Unbekannte Verehrer haben den Gestalten im Käfig sogar ein Opfer dargebracht: Eine Blume und ein Brot. Doch, wer ist der Schöpfer dieser Maschine? Ein bronzenes Schild erinnert an den Baumeister der merkwürdigen Monster-Spieluhr: Hannes Heiner.

In der Monster-Uhrenwerkstatt

Hannes sitzt derweil in einem blauen Metallcontainer und wartet. Draußen prasselt der Regen. Im engen Hauptquartier der Künstlergruppe Dead Chickens riecht es nach Werkstatt, Zigarettenqualm und altem Gummi. Schraubenzieher ruhen schmutzig auf der Werkbank, Kabel hängen wie vergessen herum. Das Licht haben die französischen Helfer noch nicht angeklemmt. Hannes trägt schwarze Samba-Turnschuhe mit wespengelben Streifen und ein Kapuzenshirt. Tiefgründige Interpretationen liefert der Mann mit den ruhigen blauen Augen ungern: „Monster habe ich schon immer gemacht – ich mag phantastische Kunst“, sagt das Gründungsmitglied der Chickens gemächlich. Natürlich zeigt die Arbeit der Künstlergruppe auch Ansätze von Konsumkritik und vor allem morbide Visionen. Doch darüber schweigt sich Hannes aus. Seine braunen, ölverschmierten Hände erinnern sich an die harte Arbeit der letzten Tage. Mit fünf umgebauten Überseecontainern ist die Gruppe schon seit Wochen durch Nord-Frankreich unterwegs. Nun ist das tonnenschwere Maschinentheater ‚ChiMech’ in Lille eingetroffen. Mit Hilfe von speziellen Schwerlastgabelstaplern konnten die Dead Chickens die Container auf der Straße zwischen Theaterplatz und Bahnhof verteilen.

Leidenschaft für alte Schädel

Breeda C.C. trägt eine schneeweiße Regenjacke mit dem Lille2004-Logo – das hilft ein wenig gegen das furchtbare Wetter. Zusammen mit Hannes und Bodo kauert die blonde Spezialkostümbildnerin in einer Ecke des Containers, von oben trommeln tausende Wassertropfen. „Die Irren schwirren wie Motten um unsere Maschinen herum“, amüsiert sich die Künstlerin. Auf ihrer letzten Tourneestation habe ein Verrückter jeden Tag seine eigene Monster-Vorstellung gegeben. Die Vorliebe für Abstruses und Verrücktes – sie hat die Truppe erfolgreich gemacht. Früher haben die Dead Chickens ihre Monster mit ausgeschlachteten Motoren aus ostdeutschen Fabriken zum Leben erweckt. Die Wende brachte ganze Berge an sozialistischem Schrott mit sich. Ein Rohstoff-Paradies für die Dead Chickens. Heute steckt High-Tech-Material in den Monstern. Ein Sponsor versorgt sie mit pneumatischen Ventilen und Antrieben. Auch die Festival-Organisatoren in Lille tun alles dafür, dass es den Künstlern an nichts mangelt. „Das ganze Unternehmen hat eine sechsstellige Summe gekostet“, berichtet Hannes. Trotzdem ist die traditionell gepflegte Sammelleidenschaft immer noch da: Hannes holt einen zahnlosen, verwitterten Totenkopf aus dem Regal. „Das ist ein Greisen-Schädel. Den haben wir hier geschenkt bekommen“, freut er sich.

Püppi zahnlos

Als der Regen eine Pause einlegt, läuft Hannes seinen Monsterparcours auf der Rue Faidherbe entlang. In fünf Containern lauern hinter dicken Eisenstangen die Hirngespinste der Dead Chickens. Etwa Püppi. Püppi ist vor allem ein Gebiss, nein viele Gebisse, gehalten von Metall und gekrönt mit romantischen Augen und sie hört auf das Kommando der Kinder, die ihr per Knopfdruck Leben einhauchen. Dosierter Luftdruck schießt in die Gelenke. Püppi schnappt, zischt und ruckelt und streckt sich mühevoll - doch die Kinder vertrauen auf die stabilen Gitter. „Das ist unsere Gogo-Tänzerin, die hat schon bei Sven Väth getanzt“, sagt Hannes und zieht aus der Tasche ein braunes Etwas. – Ein verlorener Zahn von Püppi aus Polyester. „Die Vibrationen sind so extrem“, erklärt er mit einer mitleidigen Miene, „da hält auch ein angeschweißter Zahn nicht lange.“

Ungeheuer sprechen deutsch

Ein paar Schritte weiter vor dem Bahnhof Lille Flandres: Der Seelenchor. „Das ist das erste Mal, dass ich so was sehe“, sagt eine blonde Mutter mit zwei Kindern, „erinnert mich an Dinosaurier“. „Schon beeindruckend, diese Technik, findet ein junger Mann mit Rucksack. Vier aufgerissene Kiefer mit spitzen Zähnen schnappen hastig und palavern abwechselnd, bewegen sich zu wummernden Bässen. Hannes klettert in dem Container an den hungrigen Mäulern vorbei, hält den Kopf geduckt, dass ihn die zischenden Metallgelenke nicht erwischen. Unter dem wärmenden Licht der Scheinwerfer wagt er sich an das elektronische Herz der Höllenmaschine. Ein mausgrauer Computer steht wie verloren in einer Ecke und steuert brav die Programme, die die Metallmonster mit Kunststoffüberzug am Leben erhalten. Ein Mausklick und die Ungeheuer reden deutsch, während im Hintergrund Technomusik wummert: „Also sprach Zarathustra“, brüllt ein Maul über den Bahnhofsvorplatz den Menschen entgegen. Doch die schauen eher neugierig, was Hannes in dem Container treibt.

Lädierter Seelenchor

„Wir haben immer die gleichen Probleme: dass die Leute das Gebrüll nicht ertragen können“, bedauert Bodo, ein weiterer Mitarbeiter der Dead Chickens. Genüsslich betrachtet der Mann in der grünen Jacke das Publikum der Monstervorstellung. In einer anderen französischen Stadt hätten die Bürger wegen Ruhestörung sogar den Saft abgedreht, erinnert er sich. Doch plötzlich gibt es ganz andere Schwierigkeiten für die Dead Chickens: „Ein Gelenk ist gebrochen“, ruft Hannes beunruhigt. Er holt Helfer und Draht. Die angeschlagene Bestie, die aber weiterhin gnadenlos durch den Käfig tobt, wird per Knopfdruck schlafen geschickt. Ein Ruck und die Pneumatik erschlafft – das riesige Maul sinkt leise zischend nach unten. Hannes klettert geschickt auf das stillgelegte High-Tech Monster und schraubt das Biest auseinander. Er angelt das lädierte Metallstück heraus – es ist an einer unsauberen Lötstelle abgebrochen. Er fixiert die Maschine mit simplen Draht und wirft den Seelenchor wieder an. Die Mäuler heben sich, die Techno-Musik springt an und die moderne Pneumatik tut auch mit Draht-Unterstützung ihre Pflicht. Der Seelenchor kann wieder brüllen. Später verrät die Künstlerin Breeda C.C. mit ernster Miene, weshalb selbst solche High-Tech-Monster Aussetzer haben können: „Das sind eben auch Lebewesen, die brauchen Nahrung, wollen gepflegt werden wie wir.“

Die Dead Chickens in Frankreich

Die Berliner Künstlergruppe Dead Chickens gibt es seit 1986. Aus Schrott und Neumaterial schaffen sie phantastische Lebewesen. Ihr Hauptquartier ist das Haus Schwarzenberg – ein von Zwangsversteigerung bedrohtes Zentrum für Geschichte, Kultur und Kunst in Berlin Mitte. Einige der Arbeiten der Dead Chickens bekommen dank professionell gestaltetem Kunststoff ein fast „realistisches“ Aussehen verliehen. Die Technik der von ihnen entwickelten Maschinen arbeitet auf höchstem Niveau: Computer koordinieren die komplizierten Arrangements und Festo - als Anbieter pneumatischer Steuerungen - sponsert die Künstlergruppe. In der Berliner Szene sind die Dead Chickens bekannt für schräge Musik-Performances, die sie auch selbst komponieren. Ausstellungen der Dead Chickens waren schon in Frankreich, Großbritannien und Polen zu sehen. Die Präsentation „ChiMech“ zur Kulturhauptstadt Lille 2004 ist ihr bislang aufwendigstes Projekt. 15 Mitarbeiter haben zehn Monate lang die Ausstellung vorbereitet. Die von Hannes Heiner konzipierte Spieluhr ist eine von zahlreichen Spieluhren, die in Lille im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms gezeigt werden. Sie sind eine Hommage an die legendären historischen Spieluhren Flämischer Handwerker.

Kontakt: www.deadchickens.de